Zitiert aus einer Konversation mit Herrn Prof. Dr. Axel Flessner (emeritierter Professor für Deutsches, Europäisches und Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung): Die "vorläufige Anwendung" ist ein schwer durchschaubares Instrument. Soweit sie allein in Art. 218 AEUV geregelt ist, kann sie nur das Innenverhältnis der EU und der EU zu den Mitgliedstaaten betreffen. Hier verlangt sie vor allem auf der Seite der EU eine Anwendung von deren Organen und den Mitgliedstaaten, bevor die Zustimmung des Parlaments vorliegt und bevor das Abkommen von dem anderen Staat ratifiziert ist, denn erst nach der Zustimmung des EP kann der Rat nach dem Unterzeichnungsbeschluss (Art. 218 Abs. 5) auch den Beschluss über den "Abschluss" fassen, wenn ein Fall von Art. 218 Abs. 6 Buchst.a) gegeben ist. Bei CETA und TTIP dürfte dies gemäß III und IV gegeben sein. Ein solcher Beschluss kann aber die Mitgliedstaaten nicht binden, wenn das Abkommen ein gemischtes ist, weil dann die Mitgliedstaaten auch selbst Partei des Abkommens sind, worüber sie selbständig entscheiden. Der andere Vertragsstaat (hier Kanada oder USA) kann durch Art. 218 AEUV allein nicht gebunden und berechtigt sein, sondern nur durch das Abkommen selbst und seine Zustimmung dazu. Eine solche Bestimmung enthält in der Tat CETA (Art. 06 in Kap. 34 - Final Provisions). Diese Bestimmung verweist aber auf die gegenseitige Notifikation, dass die jeweiligen "relevant provisions" für den Abschluss des Abkommens "have been completed". Im Fall der EU wäre das das gesamte Verfahren nach Art. 218 AEUV. Man fragt sich allerdings, warum es dann, demnächst in Kraft tretend, noch eine vorläufige Anwendung braucht, aber das endgültige Inkrafttreten kann ja uU weit hinausgeschoben sein, auch sollen die Parteien die Übergangs- und Eingewöhnungszeit vielleicht anders regeln können. Die im Abkommen vorgesehene vorläufige Anwendung muss natürlich für jeden Vertragsstaat von diesem gebilligt werden. Wenn alle Mitgliedstaaten der EU ebenfalls Vertragsstaaten sind, weil es ein gemischtes Abkommen sein muss, sind diese also vor der Gesamtzustimmung aller durch diesen Artikel noch nicht gebunden, da das Abkommen eine Bindung nur für einzelne Vertragsparteien nicht vorsieht. Es gibt allerdings nach der Wiener Konvention über das Völkervertragsrecht (WVK), die auf CETA anwendbar wäre, auch eine Verpflichtung der vorgesehenen Vertragsstaaten, die endgültige Inkraftsetzung des Vertrages nach seiner Unterzeichnung nicht zu vereiteln. Dies alles habe ich mir allein aus meiner juristischen Allgemeinbildung zurechtgelegt. Die Literatur sagt zu der vorläufigen Anwendung kaum etwas, Rechtsprechung gibt es anscheinend nicht. Die Praxis der EU macht von ihr aber anscheinend ungeniert Gebrauch. Die Tatsache, dass CETA eine vorläufige Anwendung ausdrücklich vorsieht, zeigt aber, dass die Verhandler und Unterzeichner es eilig haben. Deshalb wird man an Rechtsschutz beim BVerfG wohl schon denken müssen, sobald die Kommission den in allen EU-Sprachen abgefassten authentischen Text dem Rat der EU mit ihrer Empfehlung zum Abschluss des Abkommenns vorlegt. Die Tagesordnungen des Rates sind also zu beobachten. Wenn der Rat beschließt, dass CETA gemischt ist, akzeptiert er damit, dass neben der EU selbst auch die Mitgliedstaaten Parteien des Abkommens werden und deshalb nach ihren Vorschriften entscheiden, ob sie es annehmen. Das Abkommen ist sachlich unteilbar. Es kann nicht nur teilweise zustande kommen und deswegen auch nicht vorläufig zur Anwendung gebracht werden für die Teile, für welche die Mitgliedstaaten keine Zuständigkeit haben. Und für die Teile, für die sie, und nicht die EU, die Zuständigkeit haben, kann die EU allein auch vorläufig keine Bindung erzeugen. Daher mein Ergebnis: Eine vorläufige Anwendung ist, wenn nicht auch das mitgliedstaatliche Recht so etwas vorsieht und der Mitgliedstaat sie so beschließt, nicht möglich. Der Mitgliedstaat kann nicht gezwungen werden. Angenommen aber, es sei aus irgendeinem EU-rechtlichen Grund doch möglich, dann kann unmöglich das Scheitern des Abkommens die vorher erklärte vorläufige Anwendbarkeit unberührt lassen. Diese ist ja gerade im Hinblick auf das Zustandekommen erklärt worden und deshalb hinfällig, wenn das Zustandekommen wegen der Ablehnung aus den Mitgliedstaaten nicht mehr möglich ist. Übrigens: Wenn das Abkommen ein gemischtes ist, dann deswegen, weil jeder Mitgliedstaat in seiner Zuständigkeit getroffen ist. Deshalb scheitert das Abkommen, wenn auch nur einer nicht zustimmt, eine irgendgeartete Mehr- oder Minderheit ist dafür nicht erforderlich. Denn auch "personell", nicht nur sachlich, ist das Abkommen unteilbar. Es kann nicht als EU-Abkommen für nur einen Teil der Mitgliedstaaten abgeschlossen werden. Dies alles sind aber nur meine eigenen Überlegungen, Rückversicherung bei Kennern vielleicht ratsam. Sie dürfen diese meine Versuche gern anderen mitteilen.